Text zum Drucken und Herunterladen im PDF-Format. © copyright 2007-2023 Klettern- Sarcatal Links    Impressum  Privacy  Kontakt Spiz di Lagunáz, die Geschichte von zwei großen Erstbegehungen Seit 8 Jahren wird von der Fondazione Silla Ghedina eine Prämie für die beste Klettertour die in  den Dolomiten gemacht worden ist vergeben. Bei der Vergabe 2012 hat die “via Collaborazione” die  am Spiz di Lagunáz (2338 m) an der dritten Pala delle Pale di San Lucano gemacht wurde, am  Oktober 1012 den Preis in Belluno erhalten. Die Begründung lautete:  “Eine Tour von besonderer Schönheit, die an den schwächsten Punkten der Südwand des Spiz di  Lagunàz verläuft. Eine Felswand mit 900 Metern und einer anhaltenden Schwierigkeit von 6° bis7°.  Dolomiten Ambiente von großer Rauheit sowohl in der Steilheit als auch der Abgeschiedenheit wie  im Yosemite Valley. Die Kombination von mehreren Elementen wie der schwierige Zustieg, die  Isoliertheit der Wand und des Rückweges erreichen einen hohen Wert an Kühnheit und einem  großen Abenteuer mit dem Gebrauch von traditionellen Sicherungsmittel im Weg gegen den  Gipfel”.  Im nachstehenden Bericht erzählt Heinz Grill von dieser und einer weiteren Erstbegehung.  Spät abends um zehn Uhr saßen wir wieder zufrieden im Auto und fuhren Richtung Col di Prà im Valle di San Lucano  zurück. Am Lokal von Mauro stand noch das Auto von Ettore De Biasio. Wir hielten an, stürzten in die Gaststube und  schüttelten Ettore die Hände, der uns ganz glücklich mit freudigem Gesicht empfang. Hier, mit dieser Begegnung schließt  sich ein Teil einer spannenden Sommergeschichte, die viele neue Erfahrungen in sich trägt und an der die verschiedensten  Personen mit empathischer und aktiver Anteilnahme mitgewirkt haben.  Es ist mittlerweile herbstlich geworden und wir waren alle froh, dass uns die Pale di San Lucano ohne schlimme  Biwaknächte und tragische Erfahrungen entlassen hatte. Wir blicken zurück auf zwei wahrlich große neue Anstiege an der  Spiz di Lagunaz.  Ettore ist der Autor des Buches über die Pale di San Lucano. Die sehr schönen Fotos und  angenehmen Beschreibungen, die in dieser Veröffentlichung zu finden sind, hatten mich im  Mai dieses Jahres dazu bewegt, meine Augen auch in dieses für mich bislang noch sehr  unbekannte und naturbelassene Reich von gigantischen Felsen und Schluchten zu richten. Die  Casarotto-Radin-Verschneidung an der Spiz di Lagunaz war mir als Kenner von klassischen  Alpintouren ein guter Begriff und nun wusste ich auch, wo sie zu finden sei. Für die  Kameraden Franz Heiß und Florian Kluckner brauchte es nicht viel Überredungskunst und  noch in den sprießenden Frühjahrstagen standen wir frühmorgens gemeinsam an der Baita  und stiegen über den Wald und langen Vorbau hinauf zu den ersten Felsen der bekannten  Route. Das Wetter war relativ unsicher, denn in den Frühjahrstagen sammeln sich allzu leicht  die Gewitter und verursachen gerade auf den Höhenlagen unkalkulierbare Gefahren.   Es ist möglich, auf den Wetterbericht zu hören oder es ist auch möglich, mehr auf seine  inneren Wahrnehmungen und Eindrücke, die man selbst über das Wetter gewinnt, zu achten. Meines Erachtens ist es immer  günstig, wenn sich die innere persönliche Intuition mit den äußeren vorhergesagten oder mitgeteilten Bedingungen sinnvoll  trifft. Gleichzeitig war es mir für die Sicherheit eines Unternehmens sehr wichtig, dass das kameradschaftliche  Zusammenwirken immer äußerst präzise abgestimmt sein war. Hat jemand Streit in seiner Ehe, gibt es Konflikte im nahen  Freundeskreis oder auch in der Umgebung, in der die Erstbegehung stattfindet, betrachte ich dies als Beeinträchtigung und  sogar auch als Gefahrenfaktor. Über die Jahre hinweg konnte ich es zunehmend wertschätzen, wenn nicht nur diejenigen Personen, die unmittelbar in der  Wand sind, mit positivem Interesse und einer guten Wahrnehmungsfähigkeit am Gelingen des Unternehmens beteiligt sind,  sondern sich auch die nahen Angehörigen mit reger Empathie in das ausgesetzte Geschehen am Berge einfühlen und auf  diese Weise eine Art mentale schützende Kraft aufbauen. Je besser sich diese menschliche Begegnung im Miteinander  entwickelt und je mehr mit ehrlichem Herzen aneinander gedacht wird, umso weniger bricht nach meiner Erfahrung ein  Unglück herein.   Das Wetter hielt tatsächlich trotz einer sehr bedenklichen Vorhersage sehr gut und es fiel nicht ein einziger Regentropfen.  Nur die Verschneidung, das zentrale Kernstück der Route, war von oben bis unten nass und mit sehr viel Schmutz bedeckt.  Am großen Band im oberen Teil der Führe war nämlich noch ein mächtiger Schneebalkon, der die Nässe und auch so  manchen Schutt in die Gründe der Verschneidung hinabrieseln ließ. Wir erreichten gegen Nachmittag den Gipfel und  begaben uns ohne große Pause auf den Abstiegsweg. Der Weg über den Torre Lagunaz war noch sehr gut begehbar, während  wir nach dem letzten Abseilen manchmal bis zu den Hüften in den noch restlich gelagerten Schnee einsanken und uns somit  über Stunden hinweg wieder zurück bis zur Forcella di Gardès hindurchwühlten. Franz und auch Florian fluchten über diese  Bedingungen und Mühsale und meinten, dass es mir hoffentlich nicht einfalle, in diesem Gebiet mit den weiten Zu- und  Abstiegen eine Erstbegehung zu planen.  Ich versicherte ihnen etwas unbekümmert, sie können unbesorgt sein, denn Erstbegehungsprojekte hätten wir schon zur  Genüge. „Worte vergehen, aber Taten bleiben. Komm mit!“ Kurz aber nach unserer Rückkehr war es Ivo Rabanser, der mir von dem Pfeiler links der  Casarotto-Radin berichtete und mir das Unternehmen als ein großes Abenteuer, das unbedingt  noch zu machen wäre, vorstellte. Er hat selbst mit Lorenzo Masarotto gesprochen, der diesen  linksseitigen schwarzen, hoch über dem Boral, der Schlucht, gelagerten Pfeiler im Auge hatte.  So wie ich Ivo verstand, hatte Lorenzo Masarotto ihn schon fast aufgefordert, diesen Pfeiler  einmal zu begehen. Jedenfalls lud mich Ivo zu diesem Unternehmen ein und da gerade sehr viel  Polemik gegen mich in Zeitschriften unterwegs war, meinte er nur lakonisch: „Worte vergehen,  aber Taten bleiben. Komm mit!“ Ich konnte jedenfalls nicht nein sagen und ließ mich von Ivo,  der mir die Großartigkeit der Wand eindrucksvoll schilderte, wie in einem Sturzbach mitreißen.  Franz und Florian erzählte ich von diesen Plänen lieber noch nichts, denn bildlich sah ich noch  die beiden Gesichter, als wir durch den Schnee auf dem Rückweg zurückgewühlt waren.  Das Wetter in den folgenden beiden Monaten war außerordentlich instabil und eine tätige Planung war in den langen  lichtreichen Tagen des Juni und Juli nicht möglich. Ich zweifelte, ob ein derartig aufwändiges Unternehmen für mich  geeignet war, da ich nicht gerne in Wänden biwakiere und mich vor allem zu schwach für das Tragen der schweren  Rucksäcke über die weite Vorbaustrecke fühlte. Ivo sprach jedenfalls von 50 Haken und ich rechnete mir schon das Gewicht  im Rucksack aus. Der Jüngste bin ich auch nicht mehr und ich sann darüber nach, ob nicht der rein philosophische Weg, wie  dies meinem tätiger Beruf entspricht, geeigneter und besser sei als immer wieder am Morgen dazustehen und den Schweiß  auf den Felsen tropfen zu lassen. Aber Ivo war vollendet überzeugt, dass es sich um ein außerordentliches und wichtiges  Unternehmen handle, das nicht zu versäumen sei.    Aus einer großartigen Idee wurden sogleich zwei Das Wetter blieb weiterhin unsicher, doch die Neugierde nahm zu und ich wollte zumindest diese  Wand aus der Nähe erkunden. „Machen wir einen Ausflug über den Vorbau der Spiz di Lagunaz  hinauf“, sagte ich zu einigen Freunden, „bei der Unsicherheit des Wetters lässt sich nicht sehr viel  unternehmen.“ Mit einigen wenigen Haken und zwei Seilen stiegen wir auf und erreichten den  Sporn des Südwestfußes der Spiz di Lagunaz. Ivo aber war nicht mit uns und so überkam mich  die Scheu, in sein von ihm gedachtes Projekt einzusteigen. Man hätte aber in die Wand einsteigen  müssen, um sie in ihrer Qualität, Struktur und Dimension richtig wahrzunehmen. Von unten  waren nur Wasserstreifen, Überhänge und sehr schwer interpretierbare Felsgebilde sichtbar. Es  war die Idee von Ivo, diese Route zu durchsteigen und ohne ihn unmittelbar an der Seite zu  haben, hätte ich das Gefühl gehabt, eine fremde Sphäre zu sehr mit meinen persönlichen  Eigenheiten zu benetzen. Da aber der Wandfuß schon erreicht war und das Wetter zunehmend trockener wurde, wäre es  schade gewesen, ohne weitere Aktivität zurückzukehren. Rechts der Via Bellunesi ragt ein gigantischer gelber Pfeiler mit  undurchdringbaren Dächern und Wülsten empor. Sollten wir vielleicht nicht einmal auch diese Wand näher erkunden? Wir  stiegen verlegenheitshalber in diese ein und erreichten schließlich eine Höhe von 250 Meter. Der Fels war von  ausgezeichneter Qualität und trotz mancher nasser Graspolster erwies sich die Kletterei als lohnend. Ein zweites Projekt  drängte sich nun förmlich wie ein verlockendes Angebot auf. Aus einer großartigen Idee wurden sogleich zwei.  Unter der Wand der Spiz di Lagunaz fühlt man die absolute Großartigkeit und Mächtigkeit des felsigen Naturreiches. Der  Mensch, der sich in dieses hineinwagt, wird auch nicht vorschnell entlassen werden. Bereits zu Zweit in der Seilschaft fühlt  man sich in diesen Regionen nahezu überfordert und man weiß, dass man zumindest viel Zeit für eine Erstbegehung  investieren müsse. Wie können zwei geplante Routen in eine angemessene Realisierung gelangen, wenn sowohl die  Erreichbarkeit der Wand als auch der Abstieg außerordentlich mühsam  und lange sind? Die Realisierungen sind wohl nur  durch eine exakte Zusammenarbeit von mehreren Personen möglich. Ich erzählte Ivo von meiner Erkundungsfahrt und  wieder war es er, der mich mit inbrünstiger Begeisterung zu einer Durchsteigung dieser beiden Routen befeuerte. Er meinte,  diese beiden Unternehmungen hätten außerordentlichen Vorrang vor allen anderen.   Nachdem sich das Wetter Mitte August etwas gebessert hatte, gingen Florian, Franz und ich erstmals ernsthaft an die Arbeit.  Wir begannen mit der zweiten Route, dem Südpfeiler. Die Erinnerungen an den mühsamen, schneebedeckten Abstiegsweg  waren mittlerweile verblasst. Nun war es mehr die Hitze, die das eigentliche Problem darstellte. Mit 30 Haken und fünf  Holzkeilen im Rucksack schwitzten wir den Vorbau hinauf und stiegen über die bereits realisierten Seillängen des Pfeilers  an. Von der Umkehrstelle aus konnten wir vier weitere Seillängen in die zentrale Wand vordringen und erreichten knapp das  große dreieckige Dach. Der Weiterweg zeigte sich problematisch oder, besser gesagt, fast utopisch. Können ohne die  Verwendung von Bohrhaken dieses Dach und auch die nachfolgenden überhängenden Seillängen bewältigt werden? Wir  seilten wie geplant wieder ab und überlegten gemeinsam aus der sicheren Talperspektive, ob ein Weiterweg überhaupt  sinnvoll ist.   Ein großes dreieckiges Dach schien den Weg zu versperren Damit sich eine Bergtour sinnvoll entwickelt, ist nach meiner Erfahrung nicht nur die reine  Naturbedingung am Berg entscheidend, sondern die gemeinsam gedachte Zielvorstellung  und Wunschabsicht der beteiligten Personen. Über die Ästhetik, über die Verwendung des  Materials und über die Stilform, wie eine Route entstehen soll, müssen sich die Kletterer in  der Seilschaft vollständig einig sein. Entsprechend der Wunschabsichten und Ideale, die in  der Vorstellung gedacht werden, entwickelt sich eine gesunde Wahrnehmungsfähigkeit und  ein empfindsames Gefühl für den Felsen. Ich nahm mir ein Beispiel an Ivo, der mich zu  seiner Route überredet hatte und inspirierte sogleich Franz, Florian und Klaus für meine  Route. Ihre Begeisterung stieg. Sie nahmen die Mühe in Kauf und stiegen erneut über den  anstrengenden Vorbau hinauf. Mit Hilfe eines Quergangs wollten sie das große dreieckige  Dach links umgehen. Ich selbst unterlag dem Laster der Bequemlichkeit und blieb mit  einem astronomischen Fernrohr ausgerüstet am kühlen Bach des Tales und  beobachtete die Freunde aus der Ferne. Dieser  Posten im Tal war jedoch für mich nicht uninteressant, denn ich lernte die verschiedensten namhaften Kletterer kennen. Ivo  Ferrari, der gerade seinen jährlichen Urlaub hier verbrachte, nahm sogleich lebendig Anteil an dem Erstbegehungsprojekt. Es  kamen auch Alessandro Rudatis und die Gebrüder Lagunaz, die den gleichen Namen wie der Berg selbst tragen.   Die drei winzigen Punkte, die einmal etwas nach links und einmal wieder nach rechts hinaustasteten wurden nicht mehr aus  den Augen gelassen. Das Dach schien aber nicht ohne den Einsatz von Bohrhaken begehbar zu sein und so seilten die Drei  wieder ab. Die Drei wollten aber auch noch nicht an ein Ende des Projektes glauben und ließen deshalb einen Satz Friends und ein gutes  Bündel Haken unterhalb des Daches hängen. Sollten wir das Material holen und die gesamte Idee als historische Tatsache  ablegen? Jedenfalls zwei Tage später plagten Franz, Klaus und ich uns erneut über den Vorbau hinauf und erreichten mit  einigen Schweißperlen die letzen Standhaken. Kann man das Dach nicht doch überwinden? Ich nahm einige Haken an den  Gurt und kletterte vorsichtig nach rechts in den Dachwinkel hinein. Ein Friend ließ sich im Dachriss anbringen, dann folgte  ein großer Tritt für zwei Füße, von dem aus ein Haken zu schlagen war. Es geht tatsächlich.... Am Ende des Daches  angekommen, konnte ich zwei Haken mit Holz in Löchern verkeilen und daran Stand machen. Die Schlüsselstelle war damit  überwunden und nun konnten wir getrost abseilen und das restliche Material für den weiteren Aufstieg hängen lassen. Auch  die folgenden überhängenden Risse erwiesen sich mit dem Einsatz von Normalhaken und Klemmkeilen als relativ gut  kletterbar. Der Masarotto Pfeiler erscheint tatsächlich wesentlich leichter zu sein Die andere Route aus der Idee von Ivo, der „Masarotto-Pfeiler“ links der Casarotto-  Radin-Führe, erschien tatsächlich wesentlich leichter zu sein. Ivo und Stefan Comploi  hatten Zeit und wir entschieden uns noch in der gleichen Woche, gemeinsam in die  Wand einzusteigen. Wir waren zwei Seilschaften, eine deutsche zu Dritt und eine  ladinische zu Zweit. Es waren meine Freunde Klaus und Lutz, die mich begleiteten.  Auch hier war eine vollständige Durchsteigung noch nicht in unserer Absicht. Wir  wollten das Gelände genauer betrachten und über die erste Wandhälfte in den zentralen  Bereich des Mittelpfeilers vorstoßen. Während mich das etwas leichtfertige  Lufttemperament beseelte und ich mich als Seilerster durch die schwarzen Risse und  einige Dächer hindurchwand, kreierten Ivo und Stefan, die vielleicht dem Erdelement  etwas näher stehen, solide Standplätze mit sehr guten Haken. Jeder konnte  verschiedene Fähigkeiten einbringen. Ich konnte es kaum fassen, mit welcher  Schwungkraft die Beiden die Standhaken in die Wand schlägelten. Ich war schon fast  verzweifelt, dass ich in keinster Weise mit dieser soliden Handwerkskunst mithalten  konnte. Das Lernen aber im Miteinander aus verschiedenen Prägungen und Erfahrungen war für uns alle gemeinsam  hochinteressant und sowohl die Philosophie von Hegel als auch die Technik und Sicherheit des Routenanlegens waren unsere  unentwegten Gesprächsthemen. Jeder achtete auf den anderen und nach neun Seillängen seilten wir wieder ab und erreichten  nach einem langen Marsch wieder den Talgrund. Die Route erwies sich bis zum zentralen Pfeiler als ideal, schön und  offenbarte angenehme gleichmäßige Schwierigkeiten.   Für den nächsten Durchsteigungsversuch waren verschiedene Überlegungen nötig. Kann von oben aus dem abstürzenden  Boral der Zentralpfeiler durch Abseilen und Queren erreicht werden? Diese Fragen interessierten uns, da eine Durchsteigung  der Gesamtroute an einem Tag infolge der sich verkürzenden Helligkeit kaum mehr zu kalkulieren war. Aus diesem Grunde  unternahmen Lutz und ich eine kleine Erkundungsfahrt nach oben zum Arco di Bersanel und stiegen durch den Boral  hinunter bis zur Westflanke der Spiz di Lagunaz. Ivo erzählte mir, dass auch Miotto immer von oben durch die Schlucht  abgestiegen sei, um die Arbeiten an der Via Bellunesi voranzubringen. Tatsächlich fanden wir auch einen alten Abseilhaken  von Miotto. Durch die verschiedenen Informationen, die sich mit der Zeit infolge der Kontakte mit anderen Bergsteigern  ergaben, lernten wir dieses Gebiet zunehmend kennen und wertzuschätzen. Ganz besonders Ivo Ferrari gab außerordentlich  wertvolle Hinweise über die verschiedenen Verhältnisse in dieser großartigen und abgelegenen Gebirgsgruppe. Ich hatte fast  das Gefühl, dass sie mich als Ausländer wie väterlich an die Hand nahmen und mich sogar gegen aufwallende und  ungerechtfertigte Polemik verteidigten. Gerade zu dieser Zeit, als wir mit unserer Tätigkeit begannen, malte nämlich am  Beginn des Vorbaus zum Spiz di Lagunaz jemand „bolli bianchi“, weiße Punkte, an die Bäume und hing sogar noch zur  Markierung Plastikstreifen an einzelne Äste. Einem Fremden wie mich, der mit einer Mannschaft von Kameraden auftritt,  der Tradition des Tales unmündig gegenübersteht und dazu noch eine ausgesprochen denkerisch-deutsche Haltung  repräsentiert und der einen Erstbegehungsplan in den Pale di San Lucano zu realisieren wagt, zu trauen und ihn sogar noch  zu fördern, ist durchaus eine nicht unnennenswerte Tatsache. Nachdem sich diese Erkundungsabseilfahrt günstig erwiesen hatte, stiegen wir erneut in die Wand ein. Wir waren zu Dritt,  Ivo Rabanser, Stefan Comploi und ich. Von der Scharte mit dem schönen Felsenbogen stiegen wir am Morgen ab und querten  mit Hilfe von einigen weiteren Abseillängen schräg hinüber in die Wand, um den letzten Punkt unseres bereits getätigten  Aufstieges zu erreichen. Damit wir ausgeruht am Arco di Bersanel ankommen konnten, halfen uns zwei Freunde, Robert und  Petra, mit dem Tragen des Materials. Die beiden blieben dann an der Vierten Pala und verfolgten jeden Augenblick unsere  Kletterei. Dieses nahe Dabeisein der Freunde am gegenüberliegenden Berg gab wohl dem Aufstieg ein sehr sicheres und  geborgenes Empfinden.   Bergsteigen, Pädagogik und Philosophie Stefan übernahm die Führung für die nächsten Seillängen des zentralen Wandteils, während Ivo sein Talent zur menschlichen  Vermittlung auf ausgesprochen geniale Weise einsetzte. Die Seilschaft wirkte in diesem Sinne harmonisch und rhythmisch  zusammen. Ein guter Alpinist im Vorstieg sorgte für das Anbringen von soliden Sicherungen, ein guter Pädagoge für die  kommunikative und entspannte Atmosphäre am Seil und ich gab schließlich mit meinen philosophischen Gedanken dem  ganzen Unternehmen eine kleine spirituelle Abrundung.   Wir waren uns während des Aufstieges sehr einig, dass die Art und Weise des Zusammenwirkens von Menschen das  Ergebnis eines Unternehmens maßgeblich beeinflusst. Jeder achtet auf den anderen, setzt seine Fähigkeiten ein und bildet  damit einen unentbehrlichen Teil eines Ganzen. Zu Dritt ist man meist stärker als zu Zweit und wenn die Freunde in naher  Anteilnahme das Unternehmen begleiten, steigert sich die Fähigkeit, richtige Entscheidungen zum rechten Zeitpunkt zu  treffen und die bestmöglichen Gelegenheiten zu nützen. Die Route führte uns Seillänge für Seillänge auf idealste Weise  höher. Ein Quergang auf einem gut kletterbaren Band löste die Schlüsselzone des Pfeilers und ein überhängender Riss, der  von Stefan mit einigen Klemmkeilen und Friends „gnadenlos“ bewältigt wurde, konnte den Durchstieg bis zum großen  Zentralband nicht mehr verhindern.   Die über dem großen Band folgende Wandzone aber war im Gegensatz zu der unteren recht instabil. Eine Kante wies  zahlreiche gefährliche Blöcke auf. Die Zeit wurde knapp. Wir überlegten, ob dieser letzte Aufstieg noch ausreichend Sinn  machen könnte. Ivo schmerzte die Schulter aus einer Verletzung. Er wollte nicht unbedingt die Führung übernehmen. Die  Brüchigkeit des Gesteins erschreckte uns alle. Es lag nun an mir, dem Ältesten, diese Seillängen schnell und intuitiv zu  lösen. Dies hatte für meine Kameraden die Folge, dass die Standhaken mit Sicherheit weniger „erdhaft“, sondern mehr  „luftig“ blieben. Ein gelbes Dach bereitete Sorge. Der Fels wurde aber schon bald wieder besser, das Dach ließ sich  überwinden und ein 50 Meter langer Ausstiegskamin führte unmittelbar zum Gipfel hinauf.   Die Route über den Masarotto-Pfeiler erfüllte uns mit Begeisterung, denn sie ist ideal und ausgesprochen schön. Beim  Abstieg waren wir froh, dass uns unsere beiden Freunde Robert und Petra empfingen und uns viel des Materials zum Tragen  abnahmen. Ettore nahm ebenfalls von der Besteigung Kunde und fuhr zum Ende der Fahrstraße hinauf, um uns dort sogleich  zu gratulieren und um seine weiteren Dienste anzubieten. Ein außerordentlich entgegenkommender Empfang wurde uns auf  diese Weise zuteil. Als Bergsteiger waren wir dies ganz und gar nicht gewohnt. Es wirkten alle Personen, und dies sogar mit  internationaler Abstammung, auf ihre Weise uneigennützig und respektvoll zusammen.  Für uns, die wir in der Wand waren, war gerade dieser Teil des gegenseitigen Zusammenwirkens so bedeutungsvoll und  freudig, da man heute infolge des Leistungsdenkens und einseitigen Suchens nach größeren Schwierigkeiten diese  essentiellen menschlichen Werte und Möglichkeiten vergisst. Die Erstbegehung über den Masarotto-Pfeiler ist deshalb nicht  nur irgendeine Erstbegehung, eine Sache, die gemacht ist, sondern sie ist durchaus eine kleine Flamme, die die menschliche  Empathiefähigkeit unter Bergsteigern wieder mehr betonen kann.   Letzter Akt: Via Collaborazione Während wir zu Dritt im Westpfeiler unser langes Tagwerk vollbrachten, stiegen gleichzeitig Florian, Franz und sein Bruder  Martin in die andere geplante Route am Südpfeiler ein. Das Wetter war in diesen Tagen noch ausgesprochen schön und  zuverlässig und sie beschlossen, nach der letzten Umkehrstelle bis hin zum Gipfel durchzusteigen. Hierzu waren zwei  Quergänge mit Seilzug nach der Art von Dülfer nötig, um die etwas mildere Zone an der rechten Pfeilerseite zu erreichen.  Die Drei teilten sich das Gepäck und einmal stieg Franz im gewagten Einsatz und ein anderes Mal Florian mit geschmeidiger  Dynamik voraus. Nach einem Biwak erreichten sie sicher den Gipfel und konnten in der Nachmittagssonne absteigen. So  waren an diesen beiden Tagen zwei große Projekte realisiert.   Noch aber waren bei dieser Südpfeilerführe einige Seillängen verbesserungsbedürftig und der untere Teil benötigte ebenfalls  eine geschlossene Linienführung. Also? Was bleibt übrig? Wir entschieden uns deshalb, noch einmal die Plage des Vorbaus  auf uns zu nehmen und starteten am 3. September zu Dritt erneut. Ivo und Stefan hatten sich leider für diese Route zur  gemeinsamen abschließenden Gesamtbesteigung keine Zeit nehmen können. Sie sind als Bergführer in den Sommermonaten  ihren Berufen verpflichtet. Franz, Florian und ich teilten die Materialien auf und wir stiegen ein. Das Wetter war bereits  unsicher und die Freunde im Tal bangten gedanklich um die Erhaltung des Sonnenscheins. Sie leisteten aus dem Basiscamp  auf jeden Fall so gute Arbeit, dass wir dort oben in der Wand mit der Sonne nahezu wie verbrannten. Knapp am Verdursten  nach elf Stunden Kletterei erreichten wir den Gipfel und erfreuten uns des großartigen und großzügigen Unternehmens. 25  Seillängen im guten Fels mit beträchtlichen Schwierigkeiten lagen hinter uns. Der Abstieg über den Torre Lagunaz zurück zu  den Freunden, die uns empfangen und wieder das Material tragen halfen, war im Verhältnis zu der gesamten Führe nahezu  eine Kleinigkeit.   So wie Musik Menschen verbinden kann, können Unternehmungen am Berg die Seelen miteinander verbinden Genau um zehn Uhr abends trafen wir schließlich noch Ettore im Lokal von Mauro. Der Kreis einer kleinen Episode von  großen Erstbegehungen schloss sich. Personen, die unmittelbar beteiligt waren und Personen, die auf mentale Weise die  Unternehmungen unterstützten, hatten sich in diesem Sommer im Valle di San Lucano gefunden. So wie Musik Menschen  verbinden kann, so können auch die Unternehmungen am Berg oder nur die mentale Teilnahme an jenen, die sich am Berg  befinden, Seelen miteinander verbinden. Von Neid und Eifersucht, von Leistungsegozentrik und einseitigem  Konkurrenzwillen war in diesen Tagen keine Spur erkennbar.   Wir verabschiedeten uns von Ettore. Er ist durch sein Entegegenkommen ein Teil dieser Erstbegehungen geworden. Wir  dachten daran, die zweite Route mit dem Namen „Via collaborazione“ zu benennen. Ohne die freundlichen und  entgegenkommenden Gefühle der „Kenner und Experten des Tales“ hätten wir sicherlich nicht die Ausdauer aufgebracht,  diese Berge mit ihrer doch mühsamen Aufstiegszone so oft aufzusuchen. Auch ohne die tätige Mitarbeit von den Freunden,  die Material und Seile zu den Einstiegen trugen und die mental nahezu jede Minute in Gedanken in Begleitung waren, und  ohne die große Inspirationskraft von Ivo Rabanser, der ein ausgesprochen hohes Gefühl für schöne und ästhetische Linien  besitzt, wäre wohl der Sommer nicht so rund und sicher zu Ende gegangen. Dieses Zusammenwirken, wie es im Tal von San  Lucano stattgefunden hat, erscheint uns allen als der eigentliche Wert, der sich bleibend in die Seele hineinschreibt.   Heinz Grill in der großen Verschneidung der Casarotto-Radin Ivo Rabanser Spiz di Lagunàz Franz Heiß, 9° Seillänge, unter dem großen Dach Standplatz auf einem Band, dahinter die vierte Pala Heinz Grill, Ivo Rabanser und Stefan Comploi 11 Seillänge: Heinz Grill und Stefan Comploi 13° Seillänge: Stefan Comploi am Beginn des Bandes, Ivo Rabanser am Ende des Bandes 14° Seillänge Risse nach dem Band;  16° Seillänge: Überhang der in technischer Kletterei überwunden wird Heinz Grill und Ivo Rabanser am Gipfel des Spiz di Lagunàz Via Collaborazione, Spiz di Lagunàz (2338 metri) Biwak in der Nähe des Einstieges Martin Heiß am Stand Florian Kluckner 7° Seillänge in kompaktem Fels
Franz Heiß in der Via collaborazione 20° Seillange, luftiger Quergang zur Kante